Die Geschichte des Narziss ist eine bekannte & dennoch unterschätzte Erzählung. Dass die meisten Mythen nicht nur schöne Märchen, sondern Gedanken über den Menschen & seine Natur sind, ist eigentlich allgemein anerkannt - Jung hat dazu vermutlich sehr viel beigetragen. Dennoch: wer beschäftigt sich schon mit Sagen?
Der Flussgott hatte die Wassernymphe Leiriope geschwängert & Narziss wurde geboren. Der Seher Teiresias sagte dem Neugeborenen ein langes Leben voraus, solange dieses sich nicht selbst erkannte. Schon früh von Männern & Frauen gleichermassen umworben, war er sich seiner Schönheit bewusst & wies alle Verehrer gnadenlos zurück. Gekränkte Umwerber wandten sich an die Götter des Olymps & baten um Rache. Artemis oder Nemesis nahm sich der Sache an & strafte Narziss mit maßloser Selbstliebe. & als sich der Schönling im Wasser einer Quelle sah, verliebte er sich unsterblich in sein Spiegelbild.
Hier gehen die Quellen auseinander - die verbreiteste Version ist Folgende:
Narziss, nicht erkennend dass sein Geliebter nur ein Spiegelbild seiner Selbst ist, möchte sich mit ihm vereinen & ertrinkt.
Dieses Bild gefällt mir besonders gut - es ist ein neueres, aber es verdeutlicht die rohe sexuelle Ebene, die in dieser Erzählung mitschwingt. Gleichzeitig zeugt es von Ironie: dieser Narziss ist nicht schön, er ist lächerlich. Es ist ein Werk von Honoré Daumier, ein französischer Künstler. Mir scheint der Narziss dieser Zeichnung ganz & gar in der Betrachtung versunken zu sein, wobei seine Körperstellung dennoch auf einen Geschlechtsakt deutet. Das ist interessant, denn die Natur der Liebe, mit der er von der Göttin versehen wurde, nicht präzisiert wird.
Das Gemälde weiter oben ist von dem italienischen Maler Caravaggio, & ich habe es gewählt weil mich die Dunkelheit des Werks sehr anspricht. Ich bin kein Kunstexperte, nicht annähernd, aber ich habe bei der Betrachtung dieses Narziss den Eindruck, Caravaggio habe in der Sage ähnliche Züge in dem Menschen erkannt wie ich. Caravaggio malt das Verlangen, das ungebändigte & heillose Begehren, & ich sehe darin die Finsternis.
Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antliz, Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist. |
Ovid, Metamorphosen III 418f. |