24.7.11

Narziss

Die Geschichte des Narziss ist eine bekannte & dennoch unterschätzte Erzählung. Dass die meisten Mythen nicht nur schöne Märchen, sondern Gedanken über den Menschen & seine Natur sind, ist eigentlich allgemein anerkannt - Jung hat dazu vermutlich sehr viel beigetragen. Dennoch: wer beschäftigt sich schon mit Sagen?


Der Flussgott hatte die Wassernymphe Leiriope geschwängert & Narziss wurde geboren. Der Seher Teiresias sagte dem Neugeborenen ein langes Leben voraus, solange dieses sich nicht selbst erkannte. Schon früh von Männern & Frauen gleichermassen umworben, war er sich seiner Schönheit bewusst & wies alle Verehrer gnadenlos zurück. Gekränkte Umwerber wandten sich an die Götter des Olymps & baten um Rache. Artemis oder Nemesis nahm sich der Sache an & strafte Narziss mit maßloser Selbstliebe. & als sich der Schönling im Wasser einer Quelle sah, verliebte er sich unsterblich in sein Spiegelbild. 
Hier gehen die Quellen auseinander - die verbreiteste Version ist Folgende:
Narziss, nicht erkennend dass sein Geliebter nur ein Spiegelbild seiner Selbst ist, möchte sich mit ihm vereinen & ertrinkt. 


Dieses Bild gefällt mir besonders gut - es ist ein neueres, aber es verdeutlicht die rohe sexuelle Ebene, die in dieser Erzählung mitschwingt. Gleichzeitig zeugt es von Ironie: dieser Narziss ist nicht schön, er ist lächerlich. Es ist ein Werk von Honoré Daumier, ein französischer Künstler. Mir scheint der Narziss dieser Zeichnung ganz & gar in der Betrachtung versunken zu sein, wobei seine Körperstellung dennoch auf einen Geschlechtsakt deutet. Das ist interessant, denn die Natur der Liebe, mit der er von der Göttin versehen wurde, nicht präzisiert wird. 

Das Gemälde weiter oben ist von dem italienischen Maler Caravaggio, & ich habe es gewählt weil mich die Dunkelheit des Werks sehr anspricht. Ich bin kein Kunstexperte, nicht annähernd, aber ich habe bei der Betrachtung dieses Narziss den Eindruck, Caravaggio habe in der Sage ähnliche Züge in dem Menschen erkannt wie ich. Caravaggio malt das Verlangen, das ungebändigte & heillose Begehren, & ich sehe darin die Finsternis.



Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antliz, 

Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist.
Ovid, Metamorphosen III 418f.




21.7.11

Gefühlsstern



Ich bin immer wieder erstaunt wenn ich merke, wie klassifiziert & operationalisiert psychische Erscheinungen & Regungen sind. Ich frage mich dann immer: geht das? Verlieren wir dadurch nicht an Nuancen, an Grautönen - an Wahrheit?
Der obige Stern wird in der Therapie, vor allem in der Verhaltenstherapie verwendet. Ich finde ihn hochspannend, auch wenn dieses Exemplar leider ziemlich ungenau ist. Ziel ist es, die Mitte zu erreichen: Ausgeglichenheit. Gleichgültigkeit ist kein schönes Wort, ich finde es klingt als sei die Welt eintönig. 

Andere Klassifizierungen psychischer Phänomene sind der ICD (ICD-10) & das DSM (DSM IV). Im Grunde sind das Kataloge der unterschiedlichen psychischen Störungen, die mensch haben kann. Für sie gilt meines Erachtens ähnliches wie für Theorien: nützlich aber nicht ausreichend. Eigentlich ist das doch für alles der Fall, was Kategorien aufstellt, oder? Zu behaupten, die Welt sei eine Kommode mit vielen, vielen Schubladen, erscheint mir ziemlich lachhaft. Mir fällt keine Dichotomie ein, die nicht Zwischenstufen hätte, so dass sie eher ein Verlauf ist. Gleichzeitig kommt mir kein Verlauf in den Sinn, der nicht in Abschnitte verpackt wäre. Euch vielleicht?
Gleichzeitig halte ich den Schubladendenken-Vorwurf für ein Totschlag-Argument: was ist darauf zu erwiedern? Nichts - na gut: Schubladen sind praktisch! Sie helfen eben bei der Erfassung der Welt. 
Deshalb stürze ich mich jetzt in die freudige Kategorisierung, Verschachtelung, Abgrenzung unserer Emotionen. 

20.7.11

Konstruktivismus

Hilfreich für jeden Beginn: Konstruktivismus

Der Konstruktivismus ist eine auf viele, wenn nicht alle Lebensebenen anwendbare Theorie. 
Damit wären wir auch schon beim ersten wichtigen Punkt: es handelt sich um eine Theorie. Hauptmerkmal solcher ist ihre Nicht-Allgemeingültigkeit, sie sind ledigliche eine Brille. Manche sind pink, andere blau, vielleicht grün oder auch grau. Mit einer Theorie kann nicht die ganze Welt erfasst werden, nicht einmal annähernd, aber da der Konstruktivismus keine Großtheorie ist, erhebt er auch gar nicht diesen Anspruch. Theorien mittlerer Reichweite wie der K. ist ein Versuch, etwas anhand weniger - aber genügend - Faktoren zu erklären.
Interessant am K. ist, dass er nicht sagt: so ist die Welt! 
Das wäre eine Großtheorie, und diese werden in den Geistes- & Sozialwissenschaften nicht mehr wirklich verwendet. Wirklich verstanden kann die Welt vermutlich noch nicht einmal, wenn alle existierende Theorien über sie aneinander gereiht werden - ich glaube jedenfalls nicht, dass das ausreichen würde. 

Was sagt der Konstruktivismus denn nun?
Er sagt der Objektivität ab. Je nach Radikalität des Verfechters bedeutet das, dass es zwar eine Wirklichkeit gibt (2+2=4 & die Erde dreht sich um die Sonne!), diese aber vom Menschen gar nicht wahrgenommen werden kann. Mensch betrachtet die Welt nämlich nur aus seiner Subjektivität heraus, & das was er sieht ist vielleicht messbar, aber nicht durch ihn. Jeder einzelne hat also einen Raum in dem er sich bewegt, & keiner sieht ihn so wie er es tut. Schließlich ist jeder von uns durch seine Erfahrungen, seine Neuronen, seine Hormone, sein Standpunkt, seine Ideale etc.pp geprägt. Das macht Objektivität unmöglich. & das bedeutet ein ziemliches Chaos!
Deshalb habe ich mich mit dem Erlanger Konstruktivismus besser angefreundet: dieser behauptet auch, jeder habe seine absolut eigene Wahrnehmung, aber! & das ist der springende Punkt: mensch kann sich auf eine Wahrnehmung einigen. Die meisten von uns wissen, was mit dem Begriff "rot" gemeint ist. Sprache & Wissenschaft ermöglichen eine gemeinsame Erfassung der Welt. 

Ich würde das so zusammenfassen: unsere Realität ist ein Vertrag, den wir miteinander abschließen. Wenn wir alle finden, über die Strasse laufen wenn die Ampel rot ist sei schlecht, dann ist es wohl schlecht. & wenn wir uns einig sind, dass betrogen werden sehr verletzend ist, dann empfinden wir das auch so. Das wohl wichtigste Merkmal eines Vertrages ist: auch wenn der Einzelne sich nicht ganz darin wiederfindet, gilt er. Käufer und Verkäufer eines Objekts einigen sich auf einen Preis, der vielleicht nicht ihren Wünschen entspricht, aber irgendwie muss ja aufeinander zugekommen werden! Aber weiß ein Farbenblinder, wofür "rot" steht? 

Also: wir erlernen von Geburt an Konstrukte. Viele unter ihnen bestimmen, wie wir Situationen & Handlungen begegnen, wie wir reagieren. Doch im Grunde genommen sind unsere Reaktionen beliebig, & können hinterfragt, dekonstruiert werden.
Das ist der Plan. Dann lasst mal anfangen!
Worum geht es hier? 


& zwar möchte ich den wichtigsten Faktor in unseren Leben betrügen. Ich möchte ihn hintergehen im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich möchte hinter ihn stellen & ihn verstehen. Ich möchte Emotionen auseinander nehmen, sie zerstückeln & untersuchen, & wenn es sich lohnt lassen sie sich bestimmt neu zusammenfügen - in der Alten oder in einer neuen Weise. 

Grundannahme dieses Projekts ist es, dass keine Gefühle angeboren sind, sondern nur erlernt. Ab der Geburt entwickelt mensch Gefühlsmuster, die sich im Laufe des Lebens bestätigen & bekräftigen oder wieder verlernt werden, da sie sich nicht bewährt haben. Keine Emotion, keine Gemütsregung ist Veranlagung, weshalb sie nicht feststehen, hinterfragt und willentlich verändert werden können. 

Stützen möchte ich mich auf die Theorie des Konstruktivismus, welche meiner Weltanschauung am nahsten kommt - dazu später mehr. 
Keineswegs handelt es sich hier um ein Tagebuch: Analytik & Methode stehen hier im Vordergrund, Literatur & Studium im Hintergrund. Dennoch ist mensch nie frei von seinem eigenen Empfinden, weshalb Alltag, Erlebtes & eigene Meinungen nicht ausgeblendet werden sollten - dies ist ein Versuch, die Metaebene zu erreichen. 

Vielen Dank für's Lesen!


Picture Credit: Thalia Theater Hamburg